#LeaveNoOneBehind - Begegnungen am Brandenburger Tor.

Mit einem selbstgemalten Banner auf dem Gepäckträger, Mundschutz im Gesicht, alten Schuhen im Rucksack und einem Fotoapparat griffbereit in der Jackentasche ging es heute los zum Brandenburger Tor.

Je näher wir dem Berliner Wahrzeichen entgegen radeln, desto häufiger entdecken wir auf den Wegen mit Kreide geschriebene Statements: #LeaveNoOneBehind - Hier ist Platz für alle - Solidarität kennt keine Grenzen - Free Moria - etc. Auch erste Schuhe und Fußabdrücke finden sich dazu. Schon von weitem sind die Polizei-Autos vor dem Brandenburger Tor zu sehen. Wir steigen von unseren Rädern und betreten langsam den Platz, mit aufmerksamen Augen und Ohren. Einige wenige Menschen sind da. Wir entdecken auch hier vereinzelt Kreide-Fußabdrücke unter den Torbögen. Ein blauer Müllsack voller eingesammelter Schuhe liegt herum. Polizisten (ausschließlich männlichen Geschlechts) stehen in Grüppchen parat und zeigen Präsenz. Wir stellen unsere Räder ab. Nach und nach trudeln weitere Menschen ein, viele mit Mundschutz im Gesicht, die meisten mit zögerlichen Blicken auf die Polizei. Ich gehe zu einem Polizisten, um zu erfragen, ob ein kurzer Protest (symbolisch Schuhe abstellen) gestattet ist. Gleich drei Polizisten wenden sich mir zu. Der Frontmann spricht, die zwei anderen stehen einen halben Schritt hinter ihm. Nein, jede Form der Versammlung sei wegen der momentanen Maßnahmen verboten. Außerdem: Wer räume denn den 'Müll' danach wieder weg? - Was denn passiere, wenn ich ein Schild raushole und ein paar Fotos knipse, will ich wissen. - Aufnahme der Personalien. - Aha, das wäre ja verkraftbar, und dann? - Dann gäbe es eine Anzeige wegen Anstiftung einer Versammlung. - Ähm... darauf stehen momentan sehr hohe Strafgelder, oder nicht? Ich frage deutlicher nach: Keine Versammlung, nur ein bis zwei Minuten Zeit, um mit einem Schild ein paar Fotos vor dem Brandenburger Tor zu machen? - Die Antwort bleibt nein. Und auch wenn sich der Beamte sichtlich Mühe gibt (ich vermute, er ist privat ein 'ganz netter Kerl'), ist seine Genervtheit deutlich rauszuhören, immerhin stünde er schon seit einigen Stunden hier und müsse immer wieder dasselbe sagen, und die Leute würden ihm einfach nicht zuhören, ihn nicht verstehen. - Doch, ich höre zu, sage ich. Und ich verstehe auch. Die Gefahr einer Ansammlung ist natürlich gegeben. Aber je schneller ich mein Foto geknipst habe, desto schneller bin ich auch wieder weg und mache Platz... (Je genervter der Polizist wird, desto näher rückt er mir übrigens. Die 1,5 Meter Mindestabstand sind mittlerweile definitiv unterschritten.) Das Reden bringt keinen Effekt mit sich, jedenfalls nicht für mich selbst. Andere haben jedoch die Gunst der Minuten genutzt, in denen die drei Polizisten mir ihre volle Aufmerksamkeit geschenkt haben, und haben ihre Spuren hinterlassen. Ich gehe zu meinen beiden Mitbewohner*innen und meinem Fahrrad. Wir wollen schon frustriert abziehen, als wir bemerken, dass die Polizisten sich wegen eines ähnlichen 'Gesprächsbedarfs' ein paar Meter weg bewegt haben. Wir nutzen ebenfalls die kostbaren Minuten und knipsen unsere Bilder. Dann schieben wir die Räder an den Polizei-Bussen vorbei über die Kreuzung und laufen die ersten Meter in den Tiergarten hinein. Wieder sehen wir Kreide auf dem Weg: #LeaveNoOneBehind. Und dann, beim nächsten Laternenpfahl, der nah genug an einem Baum steht, machen wir eine schnelle Aktion: Banner raus, zwischen Baum und Pfahl gespannt, bunt besprühte Schuhe auf dem Weg platziert, wieder Fotos geknipst. In unseren Aufbruch hinein haben sich auch schon weitere Menschen diesem Ort angeschlossen und fragen, ob sie Schilder dazu stellen dürfen. Klar. Und nur Mut. Und haltet Abstand. Und bleibt nicht zu lange. Und alles Gute. - Euch auch. Aufmunternde Worte unter Fremden. Und schon schwingen wir uns aufs Rad und sind auf und davon...

 

Was bleibt, sind immer dringender werdende Fragen:

Wo kommen wir hin, wenn wir unsere Meinung nicht mehr im öffentlichen Raum zum Ausdruck bringen dürfen?

Was passiert, wenn Menschen, die demonstrieren wollen, sich allein durch Polizei-Präsenz schon einschüchtern lassen und deshalb unverrichteter Dinge wieder abziehen?

Wohin entwickelt sich unsere Gesellschaft, wenn Protest immer weniger möglich wird?

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